Besuch bei den Waldmenschen
NZZ "Reisen", 18.5.2024
Zusammenfassung
Auf der Grundlage teilnehmender Eigenbeobachtung zeigt der Beitrag zwei verschiedene Arten der Begegnung zwischen Touristen und "Waldmenschen" (peuples de la forêt) in Kamerun. Im ersten Fall, den mehrtägigen, organisatorisch und körperlich aufwändigen Besuch einer entlegenen Baka-Gemeinschaft inmitten des Primärwaldes zu Fuss. Im zweiten Fall, einfacher und bequemer, die Kurzvisite von Pygmäen-Siedlungen am Rand eines Haupttourismusgebiets im Boot. Taucht man im ersten Fall mit dem Eintreten in den Wald in eine Welt der Andersartigkeit ein, so trifft man im zweiten Fall auf touristisch routinierte Menschen. Beide Gemeinschaften haben ihre eigenen Wege des Umgangs mit den Besuchern in einem touristisch wenig erschlossenen Land entwickelt. Sie sind das Endglied von Dienstleistungsmodulketten, die von Ethno-Tourismusanbietern aufgespannt werden.
Die erste Überraschung ist, dass die "Pygmäen" gar nicht besonders klein sind. Vielleicht sollte man sie deswegen auch, wie vielfach vorgeschlagen, besser peuples de la forêt nennen, Waldmenschen. Sie sind nicht durch eine gemeinsame Physiognomie charakterisiert, sondern durch eine ähnliche Lebensweise im Wald. Auf einem kleinen Pfad ist man nach Überqueren des Flusses Dja im Südosten Kameruns aus der Brandrodungszone in den dichten Hochwald eingetreten. Der Weg führt in eine andere Welt. Auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald befindet sich ein Lager von Pygmäen vom Stamm der Baka. Sie wohnen in einem Dutzend Hütten gedeckt mit Laub. Diese haben einen Durchmesser von vielleicht zwei Metern, sind eineinhalb Meter hoch und haben einen Eingang aus Palmwedel. Davor sitzen Gruppen von Männern, Frauen und Kindern auf Baumstämmen am Feuer.
Die Waldmenschen wirken entspannt, in ihre Arbeiten versunken, die sie ohne Hast und Eile verrichten. Sie befassen sich mit den essenziellen Dingen des Lebens. Sie machen nur, was sie machen müssen, um zu leben, nichts extra, sagt der Führer. Sie haben nicht la vie moderne, le développement, das würde ihm fehlen. Schon bei der Seife fängt die lange Reihe der Güter an, die man kaufen müsste, für die man Zeit und Organisation aufbringen müsste, um Geld zu verdienen, das man dafür bräuchte. Lebensnotwendig sind diese Güter nicht und die Baka setzen andere Prioritäten. Sie sitzen lange vor ihren Hütten und plaudern. Sie wirken nicht so, dass ihnen wesentliche Teile des Lebens, wie sie sich es vorstellen, abgehen würden. Insofern kann man sie nicht als "arm" bezeichnen. Von den Blicken der Besucher, die ein paar Schritte nebenan verweilen, und von denen sie Welten trennen, unbefangen. Das Leben hier ist arm an ungewohnten Ereignissen, deswegen sind die Waldmenschen lebhaft interessiert an Computern und deren Bildern, an Verrichtungen wie Zähneputzen, oder an einem Zelt als Wohnstatt.
Niemand hier kann lesen und schreiben oder weiss sein Alter. Das sind Kenntnisse, die fürs Jagen und Sammeln nicht wesentlich sind. Die Kinder gehen nicht zur Schule. Statt dessen lernen die Buben von klein auf jagen, die Mädchen sammeln. Die Buben machen sehr bald die Arbeiten ihrer Papas nach, sie werden allesamt Jäger. Seit neuestem gehen allerdings frühmorgens 3, 4 Kinder mit einem Stück Maniok in der Hand in die Schule. Das ist der Versuche eines Bildungsprojekts. Die Eltern entscheiden, wer in die Schule geht, und wer nicht. Das ist die grosse Mehrheit. Diese Kinder schwärmen morgens mit den Erwachsenen aus, um die Nahrung für den Tag zu sammeln und zu erjagen, sowie um Holz und Blätter für Feuer und Laubhütte zu holen. Diejenigen, die in der Siedlung bleiben, unterhalten sich andauernd angeregt in einem langsam rhythmisierten Singsang.
Der Besucher hat die Wahl der Übernachtung in einer Laubhütte oder in einem mitgebrachten Zelt. Nach ein paar Tagen rührt sich der Waldmensch in mir. Wird nicht auch bei uns der Sammler von Pflanzen des Waldes zu Ernährungs- und Heilzwecken oder jener, der sich nicht die neuesten Standards pasteurisierter Lebensweisen, aseptischer Hygiene oder des Besitzes bestimmter Güter zu eigen macht, herablassend als zivilisatorisch rückständiger Wilder betrachtet ?
Nach den Massstäben von Entwicklungsstufen der Menschheit haben die Waldmenschen zwei Entwicklungen der Jungsteinzeit nicht mitgemacht : "Sie säen nicht, sie ernten nicht" und sie halten keine Nutztiere. Und finden doch ihr Auskommen. Sie sind Jäger und Sammlerinnen geblieben. Unglaublich, was sie aus dem Wald herausholen. Hier ein Insekt. Dort eine Wurzel. Blätter werden eingesammelt. Ein paar Fischlein, Krebse, eine kleine Schildkröte dazu. Auch ein fetter weisser Wurm wird noch aus einem modernden Baumstamm hervorgeholt, ein Leckerbissen. Stolz hat sich ein junger Mann eine schwarze Schlange um den Hals gelegt, die er erlegt hat. Auch sie wird die Vielfalt im Kochtopf erweitern. Auf dem Weg in den Wald gibt es eine Kleintierjagd. Ein Stachelschwein ist aufgespürt worden. Es ist in seinen unterirdischen Bau geflüchtet. Vor den beiden Ausgängen werden die Kinder postiert und vor einem ein Feuer entfacht. Der eindringende Rauch nötigt das Tier nach einiger Zeit zur Flucht aus dem anderen Ausgang, wo es schon abgepasst wird. Gleich wird ihm die Gurgel durchgeschnitten – das ist in dieser Jahreszeit eine reiche Beute.
Ein Fixpunkt im Besuchsprogramm ist ein Waldrundgang, in dem von den Waldmenschen verwendete medizinale Baumrinden, Wurzeln und Blätter gegen diverse Leiden von Augenkrankheiten, Magenproblemen, Stillung von Blutungen bis zu Impotenz aufgespürt werden. Ein muskulöser junger Mann klettert an einer Liane einen Baum hoch, um nach dem Honig wilder Bienen zu sehen. Für Begegnungen mit Gorilla oder Elefant ist die Trockenzeit nicht die richtige Saison, da sich die Tiere in die mehrere Tagesmärsche entlegenen Feuchtgebiete zurückziehen. Jetzt bekommt man allenfalls Kleingetier zu sehen.
Für Exkursionen weiter hinein in den Wald setzt sich eine ganze Karawane in Bewegung. Vorne der Führer, der den Weg mit der Machete freischlägt. Dahinter junge Männer und Kinder. Es ist noch Trockenzeit. Der Wald ist durchzogen von kleinen, kaum kenntlichen Spuren, die eher Wildfährten als Wegen gleichen. Das Laub raschelt unter den Schritten. Der Ausflug in den Wald ist nie Selbstzweck oder Erbauung der Seele. Es ist nicht die Empfindungswelt von Eichendorff oder Schumann. Der Wald wird zum Sammeln von Wurzeln, Pflanzen und Kleingetier genutzt. Die Baka sind gewandte Waldwanderer. Das Tempo des Führers ist zügig. Auch die Kinder gehen flott. Ihr Gezwitscher weist den Weg. Denn weit sieht man im Blättermeer des Unterholzes nicht. Für den Weissen, auch den wandererprobten, gibt es einige Beschwernisse. Er stolpert über verdeckte Wurzeln, verfängt sich in Lianen, die ihn zu Boden reissen, aus herabhängenden Ästen lassen sich Ameisen, Würmer und andere lästige Insekten auf ihn fallen, Ameisen beissen sich fest, so schnell man auch über ihre Strassen hinwegschreitet ; vor ; vor allem : es ist drückend schwül. Die Waldmenschen gehen blossfüssig und mit nacktem Oberkörper. Niemand stürzt, niemand flucht, niemand schwitzt. Kein Zeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung. Wasser braucht man keines mitzunehmen. Der Wald ist – wenn man die Sorte erkennt - voller Wasserlianen. Mit einer scharfen Machete hackt der Führer ein Stück heraus, und sobald man es senkrecht hält, rieselt reichlich Wasser heraus.
Wenn man im Lager der Waldmenschen ankommt, ist man am Ende einer Dienstleistungskette angekommen, die hierher in den Wald führt. Der Führer, ausserdem, da man sich in einem Nationalpark befindet, ein rangeur, dazu kommt ein Träger. Die Führer vor Ort sind meist ehemalige Nationalparkangestellte aus den umliegenden Dörfern. Sie haben es geschafft, eine eigene Agentur zu gründen, die das Endglied der Dienstleitungskette "visite chez les pygmées" anbieten : den direkten Kontakt und den Aufenthalt bei den Waldmenschen. Das Endprodukt, die pygmées, bekommen etwas Geld und reichlich Palmschnaps als Abgeltung. Allerdings würde ein grösserer Geldeinschuss ihr Leben so gründlich ändern, dass sie als touristische Attraktion an Interesse einbüssten. Diese Enddienstleistungsagenturen werden von landesweit operierenden Tourismusagenturen beauftragt, die oft schon im Verbund mit Miteigentümern auftreten, welche die internationale Vermarktung erledigen. Diese wiederum sind manchmal Vertragsnehmer von international tätigen Ethno-Tourismusunternehmen. Über diese, für sie allerdings nicht erkennbaren, Ketten sind die Jäger und Sammlerinnen im äquatorialen Wald verbunden mit der Welt.
Der Führer fungiert auch als Übersetzer und als Mittelsperson. Er ist für die Gaben an die Baka-Gemeinschaft verantwortlich, der Besucher gibt Gastgeschenke drauf. Manche tun das reichlich, und, weil es so am einfachsten ist, in Geld. So bringt der Tourismus die Geldwirtschaft in den Wald. Die Aussenwirtschaft der Waldmenschen beruht auf Tausch. Sie tauschen gegen die Ausbeute ihrer Jagd- und Sammeltätigkeit extern erzeugte Produkte ein, wie die unentbehrlichen Macheten, Kochtöpfe, Plastikgeschirr, Plastikkanister oder Maniok – und : von den Dörflern gebrannten Palmschnaps. Im Tausch für Maniok arbeiten einige Frauen auf den Feldern der Dörfler, wenn die Jagdausbeute ausserhalb der Regenzeit knapp ist. Die Gaben des Führers bestehen aus Geld und zahlreichen Flaschen Palmschnaps. Der Alkohol ist die unentbehrliche motivation für die abendlichen Tanzvorführungen der Baka. Daran nehmen alle teil, Frauen, Männer, Kinder. Bizarre Tanzfiguren und jodelähnliche Gesänge, unterlegt von unablässigem Tamtam-Getrommel mitten im Wald erzeugen eine eindrückliche Abendstimmung.
Die Nachbarn, die "Grands Noirs", die grösser gewachsenen Schwarzen in den Dörfern am Rande des Waldes, blicken auf die Waldmenschen herab. Das ist eine Herablassung, die in Verachtung übergehen kann. Sie fühlen sich zivilisatorisch überlegen, auf einer höheren Entwicklungsstufe als die Waldmenschen. Ein Mädchen aus den Dörfern würde nicht in einen Baka-Clan einheiraten, weil sie das Leben dort als rückständig empfindet. Auf eine solche Frage erntet man ein Lachen, nein, so ein Leben will sich das Dorfmädel nicht antun. Umgekehrt heiraten Baka-Mädchen schon in die Dörfer ein und es kommt auch vor, dass Männer von auswärts in den Wald kommen, um dort eine Baka-Frau zu finden. Manchmal versuchen sich angetrunkene Dorfburschen dort auch Mädchen mit Gewalt zu holen. Dann ist eine Intervention der jeweiligen Chefs und gegebenenfalls der Nationalparkautorität erforderlich.
Obwohl das Verhältnis von Ungleichheit bis hin zu Ausbeutung geprägt ist, stehen die Waldmenschen mit den "grossschwarzen" Dörflern in einem Austausch, von dem sie auch etwas haben. Die grössten Feinde der Waldmenschen sind diejenigen, die den Wald wegführen. Die Strassen Kameruns sind voll mit Lastwägen, die riesige Baumstämme abtransportieren. Die Fläche des Waldes, von dem die Waldmenschen leben, verringert sich stetig. Es ist immer dieselbe Logik wirtschaftlicher "Entwicklung" : wir können den Wald doch effizienter nutzen als die Jäger und Sammler. Wir verkaufen das wertvolle Holz und nutzen die gewonnenen Flächen für intensive Landwirtschaft. Dann trägt dieser Boden ein Vielfaches an Menschen.
Ein Effekt des Tourismus könnte auch sein, dass sich der Wertschätzungsfaktor für die Baka durch die Wahrnehmung erhöht, dass die Weissen den Waldmenschen mit Interesse und Respekt entgegenkommen. Dass die Lebensart der Waldmenschen nicht nur "rückständig" ist und "unterentwickelt", sondern dass sie das Interesse von Menschen aus den materiell bestaufgestellten/hablichsten* Gegenden der Welt finden.
Die zweite Situation der Begegnung mit Pygmäen ist ein einfacher Tagesausflug
Der Ort, an dem sich der Fluss Lobé in einem spektakulären Wasserfall ins Meer wirft, ist eine Haupttouristenattraktion in Kamerun. Etwas oberhalb des Wasserfalls kann man sich in der Piroge stromaufwärts rudern lassen. Von beiden Seiten neigt sich eine Wand grünen Waldes in den Fluss. Äffchen hüpfen von Ast zu Ast, Tucane rufen einander zu. Das ist, wie man sich eine Fahrt im Dschungel vorstellen mag, wäre da nicht ein fernes Dröhnen im Hintergrund. Es hört auch nach der nächsten Flussbiegung nicht auf. Die ganze Zeit, die man sich in einem Dschungel fühlt, hat man das ferne Autobahngedröhne der unzähligen Lastwägen im Ohr, die zu dem neuen Containerhafen an der Atlantikküste fahren, und von dort kommen.
Landung bei der ersten Pygmäensiedlung. Die Pygmäen sind hier erwartungskonform kleinwüchsig. Sie wohnen nicht in Laubhütten, sondern in Holzbaracken, die einen etwas heruntergekommenen Eindruck machen, und sie treiben auch schon ein wenig Landwirtschaft. Sie sind also nicht mehr nur Jäger und Sammlerinnen. Sie haben sich den umliegenden Dörfern angepasst. Auf dem Weg zum campement finden sich reichlich Plastiksackerln, die aufgebissen wurden, um den Rum auszusuckeln. Alkoholkonsum ist ethnien - und zivilisationsübergreifend ein Problem. Im ganzen Land trifft man vormittags schon Angetrunkene an. Der junge muskulöse Chef gibt kurz und routiniert den rasch aufeinander folgenden Besuchergruppen grundlegende Informationen : wie man Chef wird : als ältester Sohn des vorherigen Chefs ; wie man eine Frau findet : da alle Bewohner dieser Siedlung miteinander verwandt sind, muss man mindestens ins nächste campement gehen. Stört der ferne Autobahnlärm nicht ? Doch, den empfinde man als lästig und überlege deswegen auch, die Siedlung weiter in den Wald hinein zu verlegen. Allerdings würden dorthin auch weniger Touristen kommen und die sind mittlerweile eine Haupteinnahmequelle der Gemeinschaft. Wieso sind ausser ihm fast keine Jungen zu sehen ? Alle Jungen sind auf der Jagd im Wald.
Dorthin beschliessen wir kurzerhand, unsere Flussreise fortzusetzen. Eine Flussfahrtstunde entfernt liegt die "zweite" Pygmäensiedlung am Rande eines Dorfs neben Feldern am Ende einer Erdpiste. Der alte Chef dort freut sich sehr, dass nach längerer Zeit wieder einmal Besucher gekommen sind. Fast alle Touristen begnügen sich aus Zeitgründen mit einem Besuch im ersten campement. Mit den mitgebrachten Geschenken ist er aber nicht zufrieden und gibt deutlich zu verstehen, dass er mehr Geld erwartet.
In dieser Gegend sind die Pygmäen, zumindest die nahe gelegenen, Attraktionen, die zum touristischen Standardprogramm gehören. Sie sind aus dem Wald an den Rand der touristischen Routen hervorgekommen und haben ihre charakteristische Lebensweise als Jäger und Sammlerinnen zum Teil aufgegeben. Die Tauschwirtschaft ist zu einem guten Teil von der Geldwirtschaft abgelöst worden. Entsprechend werden Gastgeschenke in Geldform erwartet. Der Bootsmann und Übersetzer, wiederum kein Pygmäe, sondern ein Dörfler, bestreitet das Endmodul einer Dienstleistungskette, das man separat buchen kann, wenn man den Weg dorthin findet, das aber zumeist von Tourismusunternehmern grösserer Reichweite in ihr Programm eingebaut wird. Das ist eine andere Form des Pygmäentourismus als jene im Reservat des Dja. Aber auch hier sind die Pygmäen Attraktion und nicht Akteure der Tourismusindustrie. Im Vergleich zu ihren Nachbarn im Dorf erscheinen sie als "arm".
Im benachbarten Campo-Reservat nutzt ein Tourismusprojekt ihre speziellen Fähigkeiten im Walde, was sie am besten können : sie arbeiten am Aufspüren von Gorillas und an deren Gewöhnung an die Begegnung mit Menschen. Führer und Vermittler von Begegnungen im Wald : vielleicht ist das die adäquateste Beteiligung der Waldmenschen am Tourismus in einem massentouristisch wenig erschlossenen Land.
Was nimmt man von den Besuchen von den Waldmenschen mit ? Vielfalt der Menschheit, Friede der Laubhütten, und das einfache Leben. Pygmäen, Waldmenschen aller Länder, vereinigt euch !
Berthold Unfried