Hüttenpächter, Maultiertreiber, Greißlerinnen : Internationalisten der Berge im Himalaya Verbindungslinien im nepalesischen Himalayatal und vom Tal in die Welt
Seit der Klassiker der Wanderrouten im nepalesischen Himalaya, die Annapurna-Runde, durch Straßenbau von einst über 2 Wochen auf 4-5 Tage verkürzt worden ist, sind viele Wanderer auf der Suche nach Alternativen. Da bietet sich der benachbarte Rundweg an, der in 2 Wochen rund um den Manaslu führt und ähnlich prächtige Szenarien bietet.
In einem jener Busse, die überall in Asien, Afrika und Lateinamerika das Fortkommen in alle entlegenen Winkel gewährleisten, geht es von Kathmandu bis an den Fuß der Berge. Zahlreiche Pausen und Unterbrechungen, ein paar Schluck lokalen Reisweins, und wir rumpeln und schaukeln in den Himalaya hinein, bis die Straße endet. Zu Fuß geht es anderntags weiter. In Kathmandu hat man zuvor bei einer der zahlreichen Trekkingagenturen einen Führer und einen Träger angeheuert. Der Führer Ram aus dem Volk der Tamang, ein untersetzter Mittvierziger mongolischer Anmutung, erzählt : Er hat als Träger begonnen und danach eine Führerausbildung mit den Fächern Englisch, Geschichte, Flora, Klettern und Erste Hilfe absolviert. Seit 18 Jahren geht er die Manaslu-Tour. Anfangs mit Zelt, dann sind bald Hütten (lodges) wie Pilze aus den Weilern entlang der Route geschossen und es hat sich eine komfortable Infrastruktur entwickelt. Führer wie Ram streben danach, mittels ihres in langen Jahren akkumulierten Kapitals selbst Tourismusunternehmer zu werden. Ihr Ziel ist, selbst eine Trekkingagentur zu gründen. Der Träger ist ein schmächtiger junger frohgemuter Mann ganz anderer körperlicher Beschaffenheit. Niemals würde man ihm zutrauen, die Last über mehrere Tausend Höhenmeter zu schleppen. Doch er wird seine geringe Körpergröße durch Zähigkeit wettmachen. Die Führer können leidlich englisch, die Träger nicht. Die Führer haben Daunenjacken und smartphones, die Träger dünnes Zeug an und Tastentelefone. Beide gehen mit Turnschuhen und schmalem Ränzlein Eigengepäck über den verschneiten Pass.
Man geht von einer Seehöhe von 700m los und durchquert auf gut 4000 Höhenmetern alle Klimazonen Nepals. Auf eine tropische Vegetation mit Bananenstauden und Mangobäumen folgt ein Bambuswald, darauf eine Zone mit Nadelhochwald und Rhododendronbüschen. Darüber liegt eine Heide- und Graslandschaft. Königsetappe der Tour ist die Überquerung des gut 5000m hohen Passes Larkye La. Sie ist im Unterschied zu den Etappen zuvor, die in 4-6 Stunden maximal 800 Höhenmeter pro Tag überwinden, körperlich durchaus fordernd und stark wetterabhängig. Wenn es dort oben schneit, kann der Pass wochenlang unpassierbar sein. Hinter dem hellgrünen Bambus, den silbriggrünen Tannen und den dunkelgrünen Rhododendren leuchten die schneeweißen Höhenzüge des Himalaya hervor. Entlang des Wegs schäumt der Gebirgsfluss Gandaki. Diese prächtigen Ausblicke erheben die Herzen und lassen den Wanderer froh in der Zuversicht ausschreiten, auch diese fernen schneeigen Zonen zu erreichen. Da überrascht uns eine lange Serie Gewitter, die schwere Regenfälle bringen. Wir lassen sie bei ein, zwei, drei Krügen Hirsewein vorüberziehen, stoisch wie die Maultiere, die reglos im Regen stehen. Anderntags ist es bis zur Baumgrenze herab weiß. Da kommen Wanderer im Abstieg entgegen. Dort oben hat es den ganzen Tag und die ganze Nacht geschneit, berichten sie. In dem tiefen Schnee ist kein Weiterkommen. Sie mussten umkehren. Diese unerwartete Nachricht wirkt ernüchternd. Damit hat man in dem satten Grün nicht gerechnet. Die Aussicht, 5 Tage lang dieselbe Strecke wieder zurück zu gehen, macht die Aufwärtswanderer nachdenklich. Der so sicher erschienene Passübergang scheint nun unpassierbar.
Der Weg führt in einem Tal entlang des wilden Bergflusses Gandaki in den Himalaya hinein. Manchmal in steile Felswände geschlagen, erlaubt er immer ein bequemes Gehen. Die Wanderer übernachten in einfachen Hütten (lodges), die von Pächtern betrieben werden. Dort gibt es wohlschmeckende deftige, immer frisch gekochte Mahlzeiten dreimal am Tag sowie Raksi und Chang, selbst destillierten gewässerten Schnaps bzw. Bier aus Reis, Hirse oder Buchweizen, je nach Höhenlage. Die Errichter und Eigentümer der Hütten sind im oberen Teil des Tals oft Tibeter, die Pächter, oft auch Pächterinnen, nepalesische Gurung aus dem unteren Talabschnitt. Sie sind auf die Bedürfnisse der internationalen Wandertouristen besser eingestellt als die Tibeter, heißt es. Man passiert Dörfer aus eng aneinander gebauten Steindachhäuschen mit Holzbalkonen, die aussehen wie Alpendörfer vergangener Zeiten. Nur statt Kirchtürmen kleine Stupas und Tschörtten, das sind mauerförmige Arrangements in flachen Stein gemeißelter heiliger Texte am Zugang zum Dorf. Die Bewohner des oberen Abschnitts des Tals sind mehrheitlich Buddhisten, während unten die Hinduisten überwiegen. Entlegene Gehöfte auf Bergrücken, in extrem steile Hänge terrassierte Felder, auf denen Getreide, Erdäpfel, Zwiebel, Knoblauch, Rettich und Gemüse angebaut werden, zeigen die harschen Anforderungen an bäuerliche Bewirtschaftung in diesen Bergregionen. Die kargen Felder werfen nicht genug an Ernte ab, um die Wandertouristen zu verköstigen. Reis, Mehl, Öl, Salz werden von Maultieren herangeschafft. Kurz vor dem Großdorf Lho auf 3000m Höhe zeigt sich nach einer Wegbiegung auf einmal erstmals der Manaslu, um den die Runde führt. Der prächtige achthöchste Berg der Erde hat zwei Gipfeln, die sich gegen die dort oben ständig wehenden Stürme aneinanderzulehnen und zu umarmen scheinen. Auf dieser Höhe ist es morgens bitter kalt. Der Tag bringt extreme Temperaturunterschiede. Der Wanderer geht in Daunenjacke und Wollsocken los, um ein, zwei Stunden später in der Sonne das Wintergewand gegen ein kurzärmeliges Leibchen zu tauschen. Wenn die Sonne abends verschwindet, wird die Temperatur schlagartig eisig. Ab 3500m macht einem die dünne Luft zu schaffen. Deswegen wird eine Akklimatisierungstour zu einem buddhistischen Kloster auf 4000m direkt am Fuß des Manaslu eingelegt. Eine unbeschreibliche Szenerie bietet sich in diesem Talkessel : das kleine Kloster wird von 2 mächtigen Pranken des Riesenbergs umarmt, ringsum eine Kette von Gipfeln, von denen die Schneefahnen wehen.
Auf den für Maultiere gut ausgebauten Wegen herrscht ein reger Verkehr. Frauen, Männer, Kinder mit stirnbandgetragenen Flechtkörben auf dem Rücken, die Rinder am Nasenring führen, oder, das Werkzeug geschultert, von der Feldarbeit kommen. Immer wieder Glockengebimmel. Allenthalben kommen einem bunt geschmückte Maultier- oder Eselkarawanen entgegen. Das sind die Hauptverkehrsmittel im Tal. Die reichen Leute in den Himalayatälern sind neben den Tourismushütteneigentümern und -pächtern die Maultierbesitzer. Bis die Straße kommt, sind sie die Herren des Güterverkehrs, auf den der Wandertourismus angewiesen ist. Durch die Maultierkarawanen sind die einzelnen Abschnitte des Tals unablässig miteinander verbunden. In der Luft gibt es als exklusive Eilverbindung Helikopter. Sie transportieren von Höhenkrankheit befallene Bergtouristen und reich gewordene Hüttenpächter aus dem Tal heraus. Doch es gibt auch weitläufigere und gewohnheitsmäßige Verbindungslinien in die weitere Welt außerhalb des Tals.
Wer in der letzten Siedlung vor dem Pass ankommt, glaubt sich am Ende der Welt. Ein gottverlassenes windiges Dorf auf 3800m Höhe, eine knappe Woche Fußmarsch von der nächsten Autobusstation entfernt, eine Handvoll Hütten aus Stein und Holz, auf den schlammigen Wegen dazwischen Yaks, Frauen beim Spinnen, verrotzte Kinder, eine Primarschule mit drei Pultreihen, die aber nur in der Sommersaison in Betrieb ist. Über den Winter bleiben hier nur die Ärmeren und Alten, die wohlhabenderen der Dorfbewohner gehen ins Tal oder nach Kathmandu. Am Ortseingang Bilder von Che Guevara neben einem Wuschelkopf, auf Nachfrage : Bob Marley. Eine Hütte erweist sich als Greißlerei. Dort gibt es neben lokal produziertem Reiswein (Raksi), Hirsebier (Chang) und getrockneten Yakfleischstreifen ein Standardprogramm an Haltbarwaren, die auf dem Rücken der Maultiere über die 5000m hohen Pässe aus Tibet kommen : Zucker, Kekse, Zuckerln, Limonaden, Alkohol, dazu Gasflaschen, Wasserkocher und smartphones. Über die Maultierkarawanen sind die Bergdörfer an die internationale Warenwelt angebunden, die in diesem Fall aus China kommt. Die Wirtin hat in Hongkong gearbeitet, der Hüttenpächter in Singapur, ein anderer als Koch in Indien, Thailand und Malaysia. Ihre Kinder sind in der Schule in Kathmandu, andere an der Universität in Indien, wieder andere in tibetischen Flüchtlingsgemeinden in Indien und in Europa. Und wenn einmal zu viel Schnee das Tourismusgeschäft lahmlegt, lassen sich Pächter hoch gelegener Hütten auch mit dem Helikopter nach Kathmandu ausfliegen. Viele Männer und auch junge Frauen arbeiten in den arabischen Emiraten und kommen alle paar Jahre einmal zurück. Im Wesentlichen leben sie in Arabien. Auch etliche der malerischen jungen Frauen, die in den lodges die Hirse stampfen und die Küche versorgen, haben jahrelang in Dubai gearbeitet. Erstaunlich internationale Verbindungen aus dem entlegenen Bergtal im hintersten nepalisch-tibetischen Grenzgebiet hinaus in die Welt und zurück. Die Familien sind über die Welt verteilt. Man glaubt sich im Hochgebirgsdorf am Ende des Tals am Ende der Welt, ist aber in Wirklichkeit an einem kleinen Knotenpunkt internationaler Mobilität.
Der Verbindungsstrom des Tourismus spült Tourismusunternehmer aus Nordamerika, Europa und Australien ins Trekkinggeschäft im Himalaya, Tibeter und Nepalesen als Personal in Alpenhütten. Pionier des Tourismus war die internationale Mobilität der Hippies, die in den 1960er und 1970er Jahren die Tourismusdestination Nepal eröffnet haben.
Ihnen folgte der Internationalismus der Entwicklungszusammenarbeit, die eine der wichtigsten Kommunikationslinien Nepals mit der Welt ist. Auf dieser Schiene werden Menschen und Güter in Zirkulation gebracht. Auch die Zwergschule des Orts Samdo wird von einer europäischen Entwicklungsorganisation unterstützt, was zu einer Personalzirkulation zwischen dem Bergdorf und Europa führt.
Die Hüttenpächter, Maultiertreiber und Greißlerinnen des Gandakitals sind Internationalisten der Berge. Sie bringen den hintersten Himalaya mit der Welt in Verbindung.
Dharmasala, ein Zeltlager auf der Höhe des Matterhorngipfels gelegen, ist die letzte Station vor der Passüberquerung. Pächter, Köche, Personal verdienen in dieser unwirtlichen Höhe das Doppelte. Für den Pächter ist diese unentbehrliche Station eine Goldgrube. Vor der großen Passüberquerung herrscht Abenteuerstimmung. Der Schnee ist in 3 Sonnentagen so weit geschmolzen, dass der Pass mutmaßlich nun doch passiert werden kann. Doch das Wetter, eben noch sonnig, zieht wieder zu. Eine Nacht Schneefall würde uns hier festsetzen : kein Vor und kein Zurück wäre dann möglich. "Aufwachen" ruft der Träger auf Nepali ins Zelt. Nach einer Nacht mit wenig Schlaf geht es um 4h in der Finsternis los. Das Wetter ist gut, doch im Lauf des Tages ist Schneefall angesagt, gehen die Gerüchte unter den Wanderern. Der Führer drängt deswegen auf zügiges Weiterkommen. Doch diese Höhenetappe ist körperlich wirklich fordernd. Trotz ausgiebiger Akklimatisierung auf den vorhergehenden Etappen macht der Sauerstoffmangel zu schaffen. Immer kürzer geht der Atem. Der Weg zum Pass zieht sich. Hinter jeder Anhöhe, die der Pass sein könnte, taucht eine weitere Steigung auf. Tatsächlich zieht sich das Wetter bedrohlich zu. Aus dem Picnic auf dem Scheitelpunkt der Tour wird nichts. Ein Handschlag, ein Foto, und schon bricht ein Schneesturm los, der einem die Finger beim Fotografieren abfriert. Nichts wie runter auf der anderen Seite. Wir flüchten vor dem Schneesturm durch schnellen Abstieg, beschleunigt durch Abwärtsrutschen über Schneefelder. Im ersten Dorf auf 3700m Höhe vor dem Einschlafen findet sich Zeit zum Grübeln, warum dieser Übergang die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit so eindringlich vor Augen geführt hat : das Alter, Gebrechen, Krankheit ? Im Abstieg durch duftenden Riesentannenwald und rot blühendes Rhododendrenbuschwerk kann die Lebensbetrachtung fortgesetzt werden. So wird die Hochgebirgswanderung zur Erkundungstour in das eigene Leben.
Om mani padme hum besingen die Mönche am Fuß des Manaslu die Wiederkehr des immer Gleichen. Der Geist des Kapitals hat diese Vorstellung vom zyklischen Weltenlauf durchbrochen und eine lineare Vorstellung vom Fortschritt an ihre Stelle gesetzt. Wer in den Strom des Fortschritts eintaucht, der kommt nicht mehr zur Ruhe. Auch in die Manaslu-Rundtour frisst sich schon eine Straße, die dereinst das Tal mit Tibet verbinden soll. Pioniere sprengen sie mit großem Aufwand in die Steilhänge des Gandakitals. Wie werden die Maultierunternehmer und die Hüttenbetreiber auf diese Bedrohung ihrer Unternehmen reagieren ? Die Maultierunternehmer werden sich in die neuen Transportmittel diversifizieren und die Lodgebesitzer ihr angehäuftes Kapital in neue Geschäftsfelder investieren. Wer heute im Maultiertransport oder im Tourismusgeschäft groß geworden ist, muss schon morgen sein akkumuliertes Kapital im neuen Hauptstrom des Fortschritts placieren, um nicht an den Rand gespült zu werden. Der Fortschritt, den die Straße bringt, konkurriert mit dem Fortschritt, den der Tourismus gebracht hat. Denn die Wanderer gehen nicht gern auf Straßen. Doch wer einmal in den Zyklus von Kapitalanhäufung, Investition und Gewinn getreten ist, der placiert sein Kapital im jeweils neuen Strom des Fortschritts : der Maultiertreiber wird Busunternehmer, der Lodgebesitzer und die Pächterin Geschäftsfrau oder Wirtshausbesitzer in Kathmandu, in Bangalore, vielleicht sogar in Hongkong. Das sind die verschlungenen Wege der Entwicklung im Himalaya, ausgedrückt als materieller Fortschritt.
24.8.2018